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Welthandel

«Der Handelskrieg ist eine ernsthafte Belastungsprobe»

Der Ökonom Ralph Ossa war während zweieinhalb Jahren Chefökonom der WTO in Genf. Seit Anfang Juli ist er zurück an der Universität Zürich. Im Interview spricht er über die anspruchsvollen letzten Monate bei der Welthandelsorganisation, den Handelskrieg der USA und dessen Auswirkungen auf den globalen Handel.
Thomas Gull
UZH Ökonom Ralph Ossa war während zweieinhalb Jahren Chefökonom der WTO.
«Wir sehen tatsächlich eine gewisse Verschiebung von einer regelbasierten hin zu einer machtbasierten Handelsordnung», sagt UZH-Ökonom Ralph Ossa. (Bild: WTO)

Herr Ossa, Sie waren während zweieinhalb Jahre Chefökonom der Welthandelsorganisation (WTO). Weshalb sind Sie jetzt an die Universität Zürich (UZH) zurückgekehrt?

Ralph Ossa: Ich freue mich sehr, wieder an der UZH zu sein. Die Position bei der WTO war von Beginn an befristet – das entspricht dem neuen Modell, das sich am IWF orientiert. Ich hätte mir allerdings gut vorstellen können, die Aufgabe noch etwas länger auszuüben. Aber auf Dauer zwischen Genf und Zürich zu pendeln, war für mich und meine Familie nicht ideal. Am Ende war klar: Ich möchte wieder ganz in Zürich sein.

Wie waren die letzten Monate?

Ossa: Sehr, sehr intensiv. Ich habe noch nie so viel gearbeitet. In der Handelspolitik herrscht wegen der US-Zölle grosse Unsicherheit. Die Abteilung, die ich geleitet habe, war unter anderem dafür zuständig, die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Zölle einzuschätzen – sowohl auf globaler Ebene als auch für einzelne Mitgliedstaaten. Die WTO hat 166 Mitglieder – das bedeutet mindestens 166 Perspektiven. Und diese unter einen Hut zu bringen, war eine tägliche Herausforderung.

Ist es überhaupt möglich, Schritt zu halten, wenn sich US-Zölle fast täglich ändern, wie das eine Zeitlang der Fall war?

Ossa: Wir haben es immer versucht. Wir verfügen über ausgezeichnete Teams, die die Entwicklung laufend beobachten, dokumentieren, analysieren und modellieren, um die Auswirkungen einzuschätzen. Aber die Lage war zeitweise extrem volatil – und das machte die Arbeit besonders anspruchsvoll.

Aufgrund des von den USA angezettelten Handelskrieges könnte es allenfalls zu einer globalen Rezession kommen. Wie schätzen Sie das ein?

Ossa: Unsere Frühjahrsprognose rechnet für dieses Jahr noch mit einem Wachstum der globalen Wirtschaftsleistung von 2,2 Prozent – das sind 0,6 Prozentpunkte weniger, als ohne die neuen Zölle zu erwarten gewesen wäre. Beim Weltgüterhandel gehen wir von einer weitgehenden Stagnation aus: Konkret prognostizieren wir ein Minus von 0,2 Prozent, was einem Rückgang von 2,9 Prozentpunkten gegenüber einem Szenario ohne die neuen Zölle entspricht.

Ralph Ossa

Es ist wichtig, mit den USA eine Lösung zu finden, noch wichtiger ist es allerdings, dass man sich nicht dazu verleiten lässt, auch noch die anderen 87 Prozent des Welthandels zu beschädigen.

Ralph Ossa
UBS-Stiftungsprofessor für Volkswirtschaftslehre

Trumps Wirtschaftspolitik schadet auch den USA selbst. Sehen Sie das bereits?

Ossa: Ja, natürlich. Zölle in dieser Grössenordnung schaffen erhebliche Unsicherheit – und das kann für die amerikanische Wirtschaft nicht förderlich sein. In unserer Frühjahrsprognose gehen wir davon aus, dass die nordamerikanische Wirtschaftsleistung – also in den USA, Kanada und Mexiko – nur noch um 0,4 Prozent wächst. Das sind 1,6 Prozentpunkte weniger, als ohne die neuen Zölle zu erwarten gewesen wäre. Allerdings wird es noch eine Weile dauern, bis sich die handelspolitischen Massnahmen vollständig auswirken. Im ersten Quartal sah die Lage noch relativ robust aus – unter anderem aufgrund von Vorzieheffekten, mit denen Unternehmen angekündigten Zöllen zuvorkommen wollten.

Man hat den Eindruck, die WTO steht etwas auf verlorenen Posten, was die USA betrifft, weil diese versuchen, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Nehmen Sie das auch so wahr?

Ossa: Ich würde sagen: Jein. Die Beobachtung ist nicht ganz falsch – wir sehen tatsächlich eine gewisse Verschiebung von einer regelbasierten hin zu einer machtbasierten Handelsordnung. Gleichzeitig sollte man nicht übersehen, dass das multilaterale Handelssystem weiterhin erstaunlich tragfähig ist: Im Januar 2025 wurden noch 83 Prozent des weltweiten Güterhandels unter den meistbegünstigten Zöllen der WTO abgewickelt, aktuell sind es 74 Prozent. Das ist ein Rückgang, aber es bleibt ein sehr hoher Anteil.

Fast 10 Prozent weniger ist doch markant?

Ossa: Der Handelskrieg der US-Regierung stellt das regelbasierte Handelssystem vor eine ernsthafte Belastungsprobe – das will ich gar nicht verharmlosen. Andererseits muss man auch ein bisschen relativieren: Der bilaterale Güterhandel zwischen China und den USA beispielsweise entspricht drei Prozent des weltweiten Güterhandels. Amerikanische Importe machen 13 Prozent der weltweiten Güterimporte aus. Das bedeutet: 87 Prozent der Nachfrage kommt vom Rest der Welt. Es ist wichtig, mit den USA eine Lösung zu finden. Noch wichtiger ist es allerdings, dass man sich nicht dazu verleiten lässt, auch noch die anderen 87 Prozent des Welthandels zu beschädigen.

Was bedeutet das konkret?

Ossa: Es ist sehr wichtig, dass die bilateralen Abkommen, die einzelne Länder mit den USA schliessen, die internationalen Regeln nicht weiter untergraben – denn das würde den Schaden noch deutlich vergrössern. Trotz aller Schwierigkeiten gibt es noch sehr viel zu bewahren. Die internationale Handelskooperation und die WTO sind eine historische Errungenschaft, die über 75 Jahre gewachsen ist. Das jetzt einfach über Bord zu werfen, weil es gerade schwierig ist, halte ich für sehr riskant. Ich hoffe, dass wir – bildlich gesprochen – mit einem blauen Auge davonkommen.

Die Schweiz gehört zu den Staaten, die mit den USA über ein Abkommen verhandeln. Grossbritannien hat das bereits getan. Sind solche bilateralen Abkommen sinnvoll?

Ossa: Aus meiner Sicht macht die Schweiz ihre Handelspolitik bislang sehr gut. Sie engagiert sich stark in der WTO, ist aber zugleich realistisch genug zu erkennen, dass auch bilaterale Abkommen notwendig sind. Die Schweizer Diplomatie hat rasch einen direkten Draht zur US-Regierung gefunden und gleichzeitig den Dialog mit China aufrechterhalten.

Das Abkommen, das Grossbritannien mit den USA geschlossen hat, ist in erster Linie eine Absichtserklärung darüber, was man künftig noch verhandeln will. Es enthält allerdings auch Elemente, die sich gezielt gegen China richten. Das widerspricht dem WTO-Grundprinzip der Nichtdiskriminierung, demzufolge alle Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden sollten. Wenn man beginnt, den USA einen Deal zu gewähren und China einen anderen, untergräbt das das bestehende System – und das ist problematisch. Deshalb ist es für die Schweiz wichtig, bei ihren Verhandlungen mit den USA darauf zu achten, dass dadurch keine Kollateralschäden für andere Handelspartner entstehen.

Ralph Ossa Selfie vor der WTO
Ralph Ossa vor der WTO in Genf: «Die letzten Monate waren sehr, sehr intensiv. Ich habe noch nie so viel gearbeitet.» (Bild: Ralph Ossa)

Verstehen Sie, was die Trump-Regierung mit den Zöllen beabsichtigt?

Ossa: Es gibt Themen, die die Amerikaner ansprechen, die wichtig sind. Etwa wie sich eine Wirtschaft chinesischer Prägung in das regelbasierte globale Handelssystem einfügen kann. Die USA hatten im internationalen Vergleich auch relativ tiefe Zölle. Und es gibt makroökonomische Ungleichgewichte. Dazu gehört das Handelsdefizit der USA. Doch der unilaterale Weg mit hohen Zöllen ist nicht besonderes zielführend, um diese Probleme zu lösen.

Weshalb nicht?

Ossa: Aussenhandelsdefizite lassen sich gut mit einem Haushaltsbudget vergleichen: Wer dauerhaft mehr ausgibt, als er einnimmt, verschuldet sich. Das muss nicht zwingend schlecht sein – zum Beispiel, wenn es um Investitionen geht. Problematisch wird es jedoch, wenn der Konsum chronisch höher ist als das Einkommen. Daran ändern Zölle wenig. Stattdessen müssten die USA ihr Haushaltsdefizit in den Griff bekommen.

Es geht jetzt wohl darum, eine neue Balance zu finden zwischen offenen Märkten und einer neuen Tendenz zur Abschottung. Zudem gibt es Sicherheitsinteressen, die den freien Handel einschränken, etwa bei der Chip-Technologie. Sind in dieser Konstellation weitere Fortschritte beim freien Welthandel überhaupt noch denkbar?

Ossa: Was die nationale Sicherheit betrifft, bestehen die USA auf dem verständlichen Standpunkt, dass allein sie selbst entscheiden, was in ihrem Sicherheitsinteresse liegt. Problematisch wird es, wenn plötzlich nahezu alles unter diesen Begriff fällt – denn dann wird das System des regelbasierten Handels untergraben. Hier braucht es klare Grenzen. Mein zweiter Punkt: Der multilaterale Handel mit unterschiedlichen Partnern ist das beste Mittel gegen die neue Unsicherheit, in der man nicht weiss, ob der Freund von heute morgen noch der Freund ist. Wie wichtig vielfältige Handelsbeziehungen sind, hat sich nicht zuletzt während der Covid-Pandemie gezeigt.

Gleichzeitig haben wir oft eine sehr verengte Perspektive: Der Handel mit China, Indien oder Vietnam hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit. Wenn man sich die Armutsdaten der letzten 20 bis 30 Jahre anschaut, kann man durchaus von einem Wirtschaftswunder sprechen. Ich würde deshalb dafür plädieren, auch diese enormen Fortschritte im Blick zu behalten, die durch den Welthandel überhaupt erst ermöglicht wurden.